Nach einer unvergesslichen Abschiedsparty brechen wir auf. Ein Zwischenstopp in Ait Ben Haddou führt uns tief in die Amazigh-Kultur. Dann geht es über den Atlas zurück ins lebhafte Marrakesch – und in die Realität.
Wie konnte das nur passieren? Wie konnte die Zeit so schnell und fast unbemerkt vergehen? Kaum zu glauben!
Bei der gestrigen Abschiedsparty sind wir tief in die marokkanische Kultur und Lebenslust eingetaucht. Kaum waren unsere Maalems und Köche mit mit der Musik fertig, tauchten wie aus dem Nichts andere Musiker auf. Allesamt in traditionellen Kleidern, jedoch ausgestattet mit Loop-Station und Effekt-Board, mit der sie eine Geige zum tragenden Element ihrer Musik machten. Unglaublich. Dabei waren wir doch schon so erschöpft vom exzessiven Tanzen vorher!
Die Nacht war entsprechend kurz, dennoch erholsam. Das frühe Frühstück unglaublich reichhaltig. Sogar ein Omelette Beber und hausgemachter Zitronenkuchen fanden ihren Weg auf den Frühstückstisch. Ganz zu schweigen von der unvergleichlichen Dattel-Marmelade, mit der wir auch unsere Koffer vollgepackt haben.
Der Abschied fällt entsprechend schwer, obwohl Wetter und Stimmung auf der Landstraße ganz wunderbar sind, uns geradezu einladen zum Reisen!
Der Niederschlag, der letzte Nacht in Tamnougalt als warmer Nieselregen hernieder kam, hat den Atlas erneut weiß gepudert. Unser Busfahrer weiß uns zu beruhigen, dass die Straßen frei von Schnee sind. Und auch sonst weiß er unglaublich viel, hat auf jede Frage eine passende Antwort und weist uns auf interessante Dinge am Wegesrand hin. Mal sind es Nomaden, mal schöne Bergformationen.
Unser erster Halt ist Ait Ben Haddou, wo wir das Maison de l’oralité besuchen. Ein unerwartetes Kleinod, dass sich in versteckten Gassen der Weltkulturerbestätte und vor den immer häufiger und immer zahlreicher kommenden Touristen versteckt. Zum Glück für uns! Gibt es uns doch die Möglichkeit, in Ruhe durch die Ausstellung geführt zu werden.
Und die Führung hat es in sich! Nachdem wir in Tamnougalt die Berberkultur ganz hautnah erleben durften, erfahren wir hier mehr über den beeindruckenden Kontext. Wobei der Begriff Berber (= Barbaren) eine von den Römern während der Besatzungszeit gegebene Bezeichnung ist, die nicht zwischen einzelnen Volksgruppen unterscheidet. Die hiesige Volksgruppe bezeichnet sich selbst als Amazigh, was so viel heißt wie „freie Menschen“. Für die Amazigh wiederum sind alle weißen Menschen „Aromi“ (Römer). In der Amazigh-Kultur gehört mein Körper nicht mir, sondern der Gemeinschaft, da ich mit ihm der Gemeinschaft diene. Die Amazigh wurden seit dem ersten Jahrhundert nach Christus stark vom Judentum beeinflusst. Viele Amazigh, die heute Islam praktizieren, haben jüdische oder auch christliche Vorfahren. Wenn die Religionen doch nur öfter so harmonisch miteinander verwoben wären!
Es ist hoch spannend, was wir sonst noch alles über die Amazigh erfahren, bei den so viele Dingen so anders als bei uns sind. So verbinden Amazigh die Liebe mit der Leber, nicht mit dem Herzen. Und weil man hier anderen nicht direkt die Meinung sagen kann oder will, nutzt man ein Ahwach genanntes Aufeinandertreffen, wo man in melodiösen ad hoc-Gedichten dem Anderen die Meinung sagt, ähnlich einer Rap Battle heutzutage. Was den Kreis zu unserem gestrigen Abschlussfest schließt, das im Grunde auch eine Art Ahwach war. Es gäbe noch so viel mehr zu berichten, etwa dass in der Amazigh-Kultur die Frauen weben, die Männer stricken und die Imame die von den Menschen im Dorf gewebten Stoffe zur Dschellaba zusammennähen.
Doch, wir wollen weiter. Ein paar Blicke auf die Festung werfen, die Details eines Mauersockels dort bestaunen, Mittagessen und dann weiter gen Marrakesch. Doch halt, ist das nicht eine stammle Baustelle? Ja, was sich da vor den Blicken der Allgemeinheit verbirgt, lässt unsere Lehmbauer:innen-Herzen höher schlagen!
Die Reise über den Atlas zurück nach Marrakesch lässt uns noch einmal die Schönheit der Natur bewundern. Als kurz vor Marrakesch das Treiben auf der Straße und in den Gassen zunimmt, wissen wir, was wir in den letzten Tagen nicht vermisst haben. Nun hat sie uns wieder, die sogenannte Realität.
Wirklich? Sind wir nicht noch in Marokko, ist das nicht noch Bildungsurlaub? Mal sehen, was der Abend und der morgige Abreisetag so bringen…
Auf alle Fälle etwas Luxus und Ausspannen.
Text & Fotos: Holger Miska